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Rocket Man – Michael Chabon „Moonglow“

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„Für mich ist die Welt ganz verschwommen.“

Viele haben es gesungen, darunter die ganz Großen: Benny Goodman, Tony Bennett, Bing Crosby, Billy Holiday. Selbst der Engländer Rod Stewart zählt zu jenen, die das 1933 entstandene Lied „Moonglow“ über Mondschein und eine besondere Liebe interpretiert haben. Auch der neue Roman von Michael Chabon trägt diesen Titel und verweist an einer Stelle auf diesen legendären Song. Das Werk des amerikanischen Pulitzerpreisträgers, der zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren seines Landes zählt, beschreibt das auf den ersten Blick recht unaufgeregte Leben eines Mannes, der jedoch zu einem Protagonisten in der Geschichte der Raumfahrt wird.

Ein Vorgänger MacGyvers

Alger Hiss könnte man als einen Vorgänger von MacGyver bezeichnen. Es gibt nichts, was der Ingenieur nicht reparieren, kein Problem, das er mit eifrigem Tüfteln nicht lösen kann. Bei der Army fällt er auf durch sein technisches Geschick, im Gefängnis – Hiss hatte versucht, seinen Chef mit Hilfe eines Telefonkabels zu erdrosseln – repariert er Radios und baut nebenbei eine Bombe. Später arbeitet er in einem Unternehmen, das sich mit Raketen beschäftigt. Für die Nasa werkelt er an Modellen. Zeit seines Lebens beschäftigt er sich mit der Raumfahrt, selbst im Zweiten Weltkrieg, als er Wernher von Braun (1912 – 1977), Raketeningenieur und Entwickler der berüchtigten V2, die Londoner Straßen in Schutt und Asche gelegt hatte, durch halb Nazi-Deutschland jagt. Von seinem wechselvollen Leben erzählt er seinem Enkel am Totenbett. Dem krebskranken Hiss bleiben nur noch wenige Tage, seine Lebensgeschichte und von seiner Leidenschaft zu erzählen. Letztere teilt er sich im Übrigen mit einigen Wegbegleitern, wie jenem Pfarrer, der ihm und seinen Kameraden während des Krieges in Deutschland ein Obdach gegeben hat und mit dem er den abendlichen Himmel bestaunt hatte.

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Die Erinnerungen fallen auf fruchtbaren Boden: Denn sein Enkel ist ein Schriftsteller, der den Namen Mike Chabon – Ähnlichkeiten mit lebenden und berühmten Personen sind natürlich beabsichtigt – trägt, und die Erlebnisse seines Großvaters in Form von Memoiren zu Papier bringt. Von der Kindheit in Philadelphia eines nicht zimperlichen Jungen, der als Kleinkind kurzerhand eine Katze aus dem Fenster wirft, bis zu dessen Rentnerdasein in einer Seniorenwohnanlage in Florida, wo er der Raumfahrtbasis Cape Carneval sehr nah ist und sich auf die Jagd nach einer Anakonda macht. Diesen Strudel aus Ereignissen bringt Chabon indes nicht in eine chronologische Reihenfolge. Er lässt den Leser springen zwischen den Zeiten und Orten. Unterbrochen wird der Rückblick auf die kleinen und großen Ereignisse sowohl im Leben von Alger Hiss als auch im Verlauf des 20. Jahrhunderts von jenen Gesprächen zwischen Großvater und Enkel – in jener dramatischen Wendezeit, als die Berliner Mauer fiel. Fußnoten bringen zudem das eine oder andere besondere Detail, die eine oder andere Nebengeschichte dem Leser nahe.

„Auf dem Mond gab es kein Kapital, für das sich die arbeitenden Mondmenschen abschinden müssen. Und auf dem Mond, 384400 Kilometer vom Gegenstand der Geschichte entfernt, gab es weder Wahnsinn noch Erinnerungsverlust. Was die Raumfahrt so schwierig machte, war dasselbe, was ihr für meinen Großvater auch Schönheit verlieh: Um die Entweichungsgeschwindigkeit zu erreichen, wäre meine Großmutter wie jeder Raumfahrer gezwungen, so gut wie alles hinter sich zu lassen.“

So werden wirkliche historische Ereignisse und namhafte Personen wie eben von Braun mit fiktiven Geschehnissen und Protagonisten ganz wundersam durchmischt. Es ist nur eine literarische Verkleidung, die der Roman anlegt, eine Täuschung, dass der turbulente Lebensbericht des Großvaters aus der Feder des bekannten literaturschaffenden Enkel real sind. In einer Anmerkung heißt es recht augenzwinkernd dazu: „Beim Schreiben dieser Memoiren habe ich mich an die Fakten gehalten, es sei denn, sie wollten sich nicht der Erinnerung, dem dichterischen Willen oder der Wahrheit, wie ich sie gerne verstehe, beugen.“ Wer die autobiografische Literatur und ihre Vertreter kennt und mag, könnte wohl darin auch einen kleinen Seitenhieb verstehen. Als ein kleiner Geniestreich erweist sich die Szene, als Hiss und von Braun während eines Kongresses aufeinandertreffen. Die Geschichte des deutschen Raketenbauers, der unzählige Zwangsarbeiter für sein Rüstungsprojekt schuften und auch sterben ließ und schließlich mit vielen Wissenschaftlern in die USA geholt wurde, ist leider keineswegs Fiktion, sondern bittere Realität. Es mutet dabei befremdlich an, dass eine Technik, die als Kriegswaffe gedient hat, die Grundlage für den Weg der Menschheit ins All bildete.

Täuschungen und Geheimnisse

Doch „Moonglow“ ist auch auf eine andere Weise ein meisterhafter Roman über Täuschungen. Mit der Rückschau des Großvaters kommen auch Geheimnisse ans Licht, von denen der Enkel nichts ahnen konnte. Warum wurde seine Mutter eine gewisse Zeit von ihrem seltsamen Onkel aufgenommen, anstatt wie gewohnt bei ihren Eltern zu leben? Welche Person, welches Schicksal verbirgt sich hinter seiner Großmutter, die auf einem Unterarm eine mehrteilige Nummer trägt, unter schwerwiegenden psychischen Problemen leidet und von ihrem Mann abgöttisch geliebt wird. Chabon hat ein großartiges Werk verfasst, das nicht nur ein oftmals wunderlich erscheinendes Handlungspersonal vereint, sondern auch den schwierigen Spagat zwischen augenzwinkerndem Humor und berührender Melancholie angesichts einer Reihe an Verlusten und tiefer Trauer mit Bravour meistert.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „Zeilensprünge“ und „Feiner reiner Buchstoff“.


Michael Chabon: „Moonglow“, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, aus dem Amerikanischen übersetzt von Andrea Fischer; 496 Seiten, 24 Euro

Foto: pixabay


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